Viel Kunst, wenig Pop: Die isländische Exzentrikerin Björk hat ein neues Album vorgelegt. (Urheber/Quelle/Verbreiter: One Little Independent/H'Art/dpa)

Björk lässt den Pop immer weiter hinter sich

Einigermaßen leicht gemacht, mit klaren Beats und hübschen Popmelodien, hat es Björk ihrem Publikum schon lange nicht mehr.

Von einem kunstvollen Konzept zu kunstbesessener Kompromisslosigkeit ist es bei der genialen isländischen Sängerin, dem größten Star ihres nordeuropäischen Landes, nur ein kleiner Schritt. Das hat sich auch mit dem neuesten Album der mittlerweile 56 Jahre alten Allround-Künstlerin nicht geändert – im Gegenteil.

Auf «Fossora», Björks erstem Großwerk (hier trifft der prätentiöse Begriff mal zu) seit «Utopia» von 2017, wird also wieder in orchestralen Avantgarde-Bombastklängen und pochenden Electro-Rhythmen geschwelgt. Auf mitsingbare Refrains verzichtet die in Reykjavík geborene und nun wieder lebende Musikerin praktisch völlig.

Diesmal haben es tutende und blökende Bassklarinetten der schon als Kind vor gut 40 Jahren in eine Popkarriere gestarteten Björk besonders angetan. Ein Sextett dieser selten so prominent eingesetzten Holzblasinstrumente ist in vielen der 13 frei tönenden Kompositionen zu hören.

Aufregende Vokal-Exzesse

Die Videos zu den Singles «Atopos» und «Ovule» sind wieder hochartifizielle Meisterwerke – die oft verrückt kostümierte und eindrucksvoll geschminkte Björk erzeugt verlässlich rauschhafte Bilder, auch hier. Außergewöhnlich ist stets auch ihr Gesang, und den nutzt sie auf «Fossora» für zahlreiche chorale Arrangements und aufregende Vokal-Exzesse – mal nervig, mal pure Schönheit.

Björk zirpt und haucht elfengleich, dann wieder lässt sie einen stimmlichen Orkan aufziehen, und häufig rollt sie das «rrr». Englisch ist zwar die Hauptsprache des Albums, aber auch Isländisch lässt die Sängerin öfter einfließen (etwa in «Fagurt Er i Fjordum», übersetzt: Schön ist es in den Fjorden).

Björks Ambitionen sind also erneut schier grenzenlos. Die von Musikkritikern auf einer Stufe mit Kate Bush oder PJ Harvey angesiedelte Pop-Exzentrikerin traut (und mutet) ihren treuen Hörern aber auch schon lange viel zu. Es war einmal in den 90ern … da gab es tatsächlich noch millionenfach verkaufte, fantastische Hit-Alben wie «Debut», «Post» und «Homogenic». Doch schon mit «Vespertine» (2001) brach sich ein bedingungsloser Kunstwille Bahn.

Zuletzt hatte Björk auf «Vulnicura» (2015) die schmerzhafte Trennung von ihrem langjährigen Lebensgefährten, dem US-Medienkünstler Matthew Barney, verarbeitet. Danach feierte sie mit «Utopia» die Heilung ihres gebrochenen Herzens und eine Art Rückkehr ins Leben. Leichte Kost waren beide Alben nicht – zumal mit Alejandra Ghersi Rodriguez alias Arca eine venezolanische Produzentin elektronischer Musik zur Seite stand, die es mit schnödem Pop ebenfalls eher nicht so hat.

Es gibt auch federleichte Tracks

«Fossora» ist nun eine so virtuose wie verquere Ansammlung von Tracks, die Björk – angeblich in leichterem Gemütszustand – während der Corona-Zeit erdacht hat. «Wir alle zusammen haben eine einzigartige Zeit durchlebt, wir waren lange genug an einem Ort, um dort Wurzeln zu schlagen», zitiert ihr Label One Little Independent die Sängerin und Schauspielerin (in Lars von Triers «Dancer in the Dark» oder zuletzt in der Serie «The Northman»). «Ich habe versucht, dieses Gefühl einzufangen. Ich habe es mein Pilz-Album getauft: Baumwurzeln und Pilze, die sich ihren Weg tief ins Erdreich bahnen.»

Dem britischen «Guardian» erzählte Björk kürzlich ungewohnt freimütig über die Zeit vor «Fossora»: «Ich glaube nicht, dass ich so viel zuhause war seit meinem 16. Lebensjahr. Bekenne mich schuldig und gebe zu, dass ich täglich Schokoladenpudding gegessen habe. Ich kam so richtig auf den Boden zurück und habe das wirklich geliebt.»

Man hört dem Album diese Grundstimmung gelegentlich durchaus an, etwa in den federleichten sinfonischen Sounds von «Freefall», «Fungal City» oder «Her Mother’s House». Dann erinnert Björks neue Musik an «50 Words For Snow», das ebenfalls recht sonderbare, aber immer noch zugängliche letzte Studioalbum von Kate Bush aus dem Jahr 2011.

Dennoch: Wäre es zu viel verlangt, sich von Björk bei aller verbissenen Experimentierfreude mal wieder Songs zu wünschen, die einfach nur harmonisch im Hintergrund laufen können? Oder als Dancefloor-Kracher im Club? Die Künstlerin sieht ihren Auftrag offenbar anders: «Ich fühle, dass meine Rolle als Singer-Songwriterin ist, die Reise meines Körpers oder meiner Seele oder was auch immer auszudrücken», sagte sie jüngst dem «Guardian». «Und hoffentlich werde ich das tun, bis ich 85 bin, oder wie lange ich eben lebe.»

Von Werner Herpell, dpa

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