Dave Eggers spielt in den Büchern seine schlimmsten Ängste aus. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Kiepenheuer & Witsch/dpa)

«Every»: Mehr düstere Zukunftsvisionen vom «Circle»-Autor

Dave Eggers hätte keinen besseren Moment aussuchen können, um die Fortsetzung seines Romans «Der Circle» über einen allmächtigen Internet-Konzern zu veröffentlichen.

Von der dort beschriebenen Welt ohne Privatsphäre sind wir zwar nach wie vor weit entfernt. Doch Debatten über den Einfluss von Technologie auf unser Leben und Kontrolle durch die Online-Riesen kochen beinahe täglich hoch.

Ein Facebook-Ausfall riss erst kürzlich für sechs Stunden auch die Tochterfirmen Instagram und WhatsApp aus dem Netz – könnte es ein besseres Argument gegen die Marktmacht eines Konzern geben? Apple stoppte nach Kritik einen Versuch, auf iPhones datenschutzkonform nach Kinderpornografie zu suchen. Und Facebook sah sich gezwungen, die Entwicklung einer Instagram-Version für Zehn- bis Zwölfjährige auf Eis zu legen.

«Der Circle» kam 2013 heraus. Darin waren die Lenker eines dominierenden Online-Netzwerks – mit dem Namen Circle – besessen von der Idee, dass alles auf der Welt öffentlich sein muss. Überall auf der Welt werden Kameras verteilt, die ständig einen Livestream ins Netz übertragen. Eine Räson: Wenn alle davon ausgehen müssen, ständig gesehen zu werden, wird es keine Verbrechen mehr geben.

Zunächst Politiker und dann auch andere Menschen fangen an, ständig Kameras zu tragen. «Geheimnisse sind Lügen. Teilen ist Heilen. Privatsphäre ist Diebstahl», sind die Grundsätze des Circle. Übertrieben? Vielleicht. Aber auch undenkbar?

In der Fortsetzung – «Every» – greift Eggers nun die Geschichte einige Jahre später wieder auf. Der Circle hat einen Online-Handelsgiganten aufgekauft, «der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war» – wenn das kein Hinweis auf Amazon ist. Der daraus entstandene Megakonzern heißt Every.

Und hat noch mehr Einfluss auf das Leben. Die Kunden lassen ihren Alltag von der künstlichen Intelligenz in ihren Armbändern steuern. Das geringste Fehlverhalten wird sofort öffentlich angeprangert. Sogar an einer Software zum Sinnestransfer, die das Empfinden anderer erlebbar machen soll, wird gearbeitet.

Ihren Besitz lassen die Menschen von Every für digitale Kopien einscannen und die Gegenstände vernichten. Als würde die Realität die Kunst imitieren wollen, schlug Facebook-Gründer Mark Zuckerberg vor wenigen Tagen das Einscannen physischer Dinge für eine geplante neue virtuelle Welt – das «Metaverse» – vor.

Nicht alle sind allerdings glücklich mit dieser «Mischung aus gut gemeintem Utopismus und pseudofaschistischer Verhaltenskonformität». «Every» fängt auf den ersten Blick beinahe genauso wie «The Circle» an: Eine junge Frau betritt zum ersten Mal das Hauptquartier des Konzerns. Doch während im ersten Buch Mae Holland blauäugig in die Circle-Welt hineinstolpert, stehen die Vorzeichen nun anders. Delaney Wells will bei Every anheuern, um das Unternehmen von innen zu zerstören.

Ihr Plan: Every mit Ideen zu füttern, die so tief ins Leben der Menschen eingreifen und mit ihren Wertvorstellungen kollidieren, dass sie gegen den Konzern aufbegehren. Doch es kommt natürlich anders: Selbst eine Software, die erkennen kann, ob der Gesprächspartner einen anlügt, wird begeistert angenommen. «Es muss doch einen Punkt geben, wo der Schwachsinn zu viel wird», entfährt es Delaney in einem Moment. Nur dass sie resigniert feststellen muss: «Nichts geht zu weit.» Die Frage ist nun, ob Delaney mit ihrem Feldzug Every womöglich nur noch mächtiger und unzerstörbarer macht.

Er spiele in den Büchern seine schlimmsten Ängste aus, was von den Tech-Unternehmen zu erwarten sein könnte, sagte Eggers dem Magazin «Bloomberg Businessweek». Besondere Sorge bereitet ihm dabei, dass die Menschen selbst zu Komplizen bei ihrer ständigen Beobachtung werden.

«Ich denke nicht, dass die meisten Leuten begreifen, was für eine hemmende Veränderung unserer Spezies das ist – überwältigende, ständige Überwachung, der man nicht entfliehen kann», betonte der Schriftsteller. Diese Evolution mache uns weniger interessant und unterwerfe uns der Technologie.

Dieses Bedürfnis, vor einer totalen Überwachung zu warnen, durchdringt tatsächlich sowohl «The Circle» als auch «Every». Und auch die Angst, dass die Menschen dies akzeptieren werden, weil es ihr Leben zunächst einmal vermeintlich sicherer und bequemer macht.

Eggers treibt die Szenarien auf die Spitze, ähnlich wie Delaney will er aufrütteln. Und während nach dem jüngsten Widerstand gegen die Marktmacht der Technologieriesen ein Einschwenken der Geschichte auf den von ihm gezeichneten Kurs eher unwahrscheinlich erscheint – die technischen Möglichkeiten dazu werden mit ziemlicher Sicherheit irgendwann vorhanden sein.

Dave Eggers: Every, übersetzt von: Klaus Timmermann, Ulrike Wasel, Kiepenheuer&Witsch, 592 Seiten, 25,00 Euro (E-Book 19,99 Euro), ISBN 978-3-462-00112-9

Von Andrej Sokolow, dpa

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