Rammstein-Frontmann Till Lindemann wird 60. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Malte Krudewig/dpa)

Rammstein-Sänger Till Lindemann wird 60

Wenn er nicht herrisch das «R» rollt, Feuersbrünste über die Bühne schickt, schier grenzenlose Obszönitäten ins Mikro singt, zu knallharten Sounds kompromisslos auf seine Schenkel hämmert, dann malt Till Lindemann vielleicht gerade, schreibt Gedichte, engagiert sich in der Ukraine-Hilfe oder ist fischen am einsamen See. Der Rammstein-Sänger ist vielschichtiger als sein skandalträchtiges Image. Am 4. Januar wird der Musiker 60 Jahre alt.

«Ich mag Interpretationen, weil die so unterschiedlich sein können. Die Zuhörer haben ihre eigene Wahrnehmung und Fantasie.» Die Sätze aus dem jüngsten dpa-Gespräch bezieht Lindemann auf seine Texte. Es könnte auch um den Blick auf den Sänger selbst gehen. «Wenn ich über die wahren Hintergründe von allem sprechen würde, was ich singe, würde ich nur Schubladen schaffen. Ich glaube, es ist besser, das nicht zu tun und die Leute einfach zu ihrer eigenen Interpretation der Texte anzuregen.»

In seinen Versen und Liedtexten ist er mal Misanthrop, mal Minnesänger. Lindemann ist mit Literatur groß geworden. In Leipzig geboren, wächst er im Mecklenburg-Vorpommern der Vorwendezeit auf. Mit seiner Schwester lebt er zunächst bei der Mutter, der Journalistin Brigitte Lindemann, später für einige Zeit beim Vater, dem in der DDR bekannten Kinderbuchautor Werner Lindemann.

Reise durch die Literaturgeschichte

Salingers «Fänger im Roggen» ist sein erster Roman, Bukowski liest er, weil der in der DDR als tabu galt. Lindemanns Verse sind auch eine Reise durch die Literaturgeschichte. In Gedichten und Liedtexten lassen sich Anlehnungen an Benn, Goethe, Schiller, die deutschen Romantiker oder die Brüder Grimm finden. Er greift Piaf auf («Frühling in Paris»), Brecht («Links 2 3 4»), Süskind («Du riechst so gut»).

Bis zur Wende führt Lindemann das geordnete Leben eines Korbmachers. Das lässt Platz für Kunst und Musik. Er spielt in der Punkband First Arsch, kurz für Erste Autonome Randalierer Schwerins. Dort sitzt er am Schlagzeug, singt mitunter, spielt gelegentlich Bass. In dieser Szene Ende der 80er begegnet er den späteren Rammstein-Musikern: Paul Landers und Richard Kruspe (Gitarre), Christian «Flake» Lorenz (Keyboard), Oliver Riedel (Bass), Christoph Schneider (Schlagzeug).

Mit der Band kommt Feuer in sein Leben. «Das gehört klar zu Rammstein.» Anfangs sind es einzelne Raketen von einem Freund, es folgen Experimente mit Benzin. Lindemann lässt sich zum Pyrotechniker ausbilden – auch weil es immer wieder zu Verletzungen und Zwischenfällen kommt. Eine Rammstein-Show ist heute ein gigantisches Spektakel aus Explosionen, Feuer, Licht, Effekten und knallharter Musik. Die Kondition dafür sichert sich der ehemalige Leistungsschwimmer noch immer im Schwimmbecken.

Diskussionen und Kämpfe

Rammstein ist für Lindemann auch künstlerisch nicht immer einfach. «Ich arbeite mit fünf Leuten zusammen, da driften die Meinungen schon mal auseinander. Es gibt immer eine Menge Diskussionen und Kämpfe, in welche Richtung es weitergehen soll, über die Themen, um so ziemlich alles.»

Lindemann und Rammstein spielen mit Ambivalenzen. In Texten wird Sehnsucht zu Hass, Leid zu Liebe, immer wieder ist Gewalt in allen Formen im Spiel, die Übergänge sind fließend und Teil des Konzepts. Mehrdeutige Verse, martialische Musik, Riefenstahl-Optik führen zu Debatten um (zu) rechte Positionen. Lindemann verweist dazu auf die Sozialisation im Sozialismus und Prügeleien mit Rechtsextremen. Auf die Kritik folgt der ironisierende Song «Links 2 3 4»: «Sie wollen mein Herz am rechten Fleck doch / Seh ich dann nach unten weg da schlägt es links / links links links links zwo drei vier».

Lindemanns Projekte überschreiten Genre-Grenzen: Er schreibt einen Song für Roland Kaiser («Ich weiß alles»), holt Heino zu Rammstein auf die Bühne («Sonne»), arbeitet mit Nina Hagen, Zaz, David Garrett, singt beim Militärmusikfestival auf dem Roten Platz in Moskau das Heldenlied «Lubimiy Gorod» («Geliebte Stadt») in russischer Sprache. Zusammen mit dem schwedischen Multiinstrumentalisten Peter Tägtgren schreibt er Songs für «Hänsel & Gretel» am Hamburger Thalia Theater.

Sexuelle Übergriffe beschönigt

Das Gedicht «Wenn du schläfst» aus dem jüngsten Band «100 Gedichte» löst 2020 eine Debatte über Vergewaltigungsfantasien, K.o.-Tropfen und Sex mit Schlafenden aus. Nicht nur Kritikerinnen interpretieren die Zeilen aus Täterperspektive als Relativierung krimineller Handlungen und Beschönigung sexueller Übergriffe. Sie nehmen Lindemann das von ihm häufig verwendete lyrische Ich nicht ab, also die Erzählform einer fiktiven Figur in der ersten Person Singular.

Von Lindemann sind allerdings keine strafbaren sexuellen Übergriffe bekannt. Ebenso wenig wie andere kriminellen Vergehen, um die sich Rammstein-Songs drehen: Inzest («Wiener Blut»), Kannibalismus («Mein Teil»), Gewaltverherrlichung («Ich tu dir weh»). Lindemann handelt solche Themen in der Ich-Form ab. Das lässt beim Hören, Lesen, Mitsingen wenig Platz für scheinbare oder auch scheinheilige Distanz. Das Biest steckt im Menschen.

Ein sichtbarer Teil des sonst abgeschirmten Lindemann-Lebens mit früher Ehe und drei Kindern, Wohnung in Berlin und Dorfleben in Mecklenburg-Vorpommern dreht sich um Frauen. Altersabstand mit den Jahren zunehmend. Schwer zu sagen, ob seine «Ich will eure Titten sehen!»-Schreie ins Publikum oder die bei den Shows direkt am Bühnenrand im abgesperrten Bereich tanzenden, oft knapp bekleideten Frauen Klischees nur befördern sollen oder gelebte Schlichtheit sind.

Was für Theater spricht: Lindemann sieht seine Auftritte wie inszenierte Opern. Er hat Angst, sich zu versingen. Was vorkommt. Alles läuft nach minuziösem Plan, muss es auch angesichts des gefährlichen Feuerzaubers. Lindemann redet zwischen den Songs nicht mit dem Publikum. Am Ende vielleicht ein kurzes Danke als Anerkennung für feiernde Fans. Vorstellung beendet. Lindemann: «Ich möchte die Neugier bewahren. Wenn du das Geheimnis preisgibst oder den Hintergrund kommentierst, sind die Leute manchmal richtig enttäuscht.»

Von Gerd Roth, dpa

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