Frontmann Chris Harms von der deutschen ESC-Band Lord Of The Lost in der deutsch-britischen St. Hildas High School. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Peter Kneffel/dpa)

Ukraine-ESC in der Stadt der Beatles

Wenn Liverpooler ein sehr großes Kompliment machen, sagen sie im Slang, etwas sei «sound». Der Eurovision Song Contest ist in der Welthauptstadt des Pop angekommen, die außer den Beatles noch mehr als 50 andere Nummer-Eins-Künstler hervorgebracht hat. Mehr als jede andere Stadt der Erde.

Liverpool teilt sich die Mega-Party mit der Ukraine und zeigt das an jeder Straßenecke. Überall leuchten in der sonst eher grauen Arbeiterstadt die ukrainischen Landesfarben Blau und Gelb: Auf Bannern, auf Plakaten, sogar Regionalzüge rollen im ukrainischen Neon-Look durch den verregneten Nordwesten Englands.

Zwei Länder laden gemeinsam zum ESC ein

«Es ist das erste Mal, dass ein Land einen ESC für ein anderes Land ausrichtet», hebt die ukrainische Sängerin und Moderatorin Julia Sanina hervor. «Und Liverpool hat uns mit offenen Armen empfangen.» Man hört oft Russisch und Ukrainisch in der Stadt, sieht bunte Handzettel in Kyrillisch. Denn an diesem Samstag (21.00 Uhr) laden zwei Länder gemeinsam ein.

Der Ukraine-Krieg steht bei diesem Musikspektakel immer und überall wie ein Elefant im Raum. Ohne ihn fände der ESC dieses Jahr in einer Stadt wie Kiew oder Lwiw statt. Immer neue Anspielungen blitzen in den Kulissen der Zwischenprogramme auf – zerbombte Häuser etwa. Offen ansprechen darf man es nicht. Denn die ESC-Statuten verbieten jedem, auf der Bühne über Politik zu reden.

Politik ist tabu beim ESC 

Das gilt sogar für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Der Staatschef hatte sich angeblich beim Finale mit einer Videobotschaft an die Zuschauerinnen und Zuschauer wenden wollen. Doch die austragende Europäische Rundfunkunion (EBU) sprach sich dagegen aus. Selenskyj habe «lobenswerte Absichten», aber sein Wunsch verstoße «bedauerlicherweise» gegen die Regeln. In Kiew dementierte Selenskyjs Sprecher prompt, dass man überhaupt gefragt habe.

Liverpool kann diesen ESC gut gebrauchen. Die 500.000-Einwohner-Stadt am Mersey ist gebeutelt durch Strukturwandel und einen Brexit, den man bei der Abstimmung 2016 hier zu 58 Prozent abgelehnt hat. Laut Umfrage erhoffen sich zwei Drittel der Einwohner vom ESC einen Imagegewinn für ihre Stadt. Taxifahrer Andy, in den 1960ern als Soldatenkind in West-Berlin geboren, freut sich über das Geld, das jetzt in die Stadt gespült wird. «Es ist großartig. Jeden Tag kommen mehr Leute.»

Lord Of The Lost beim Schulkonzert in Liverpool

Apropos Imagegewinn: Deutschlands ESC-Act Lord Of The Lost kommt in England extrem gut an. Bei kleinen Konzerten in einem Traditionsclub und an einer Schule reagieren die Briten voller Begeisterung auf die Dark Rocker aus Hamburg, die so wild aussehen und dabei so nett sind. Deutschland liegt zum ersten Mal seit mindestens fünf Jahren bei den Buchmachern recht weit oben und kletterte im Laufe der Woche noch. Uns könnte ein ESC ohne Blamage für Deutschland ins Haus stehen.

«Wir sind sehr entspannt, freuen uns total auf die Show und können es kaum erwarten», schreibt Sänger Chris Harms am Freitag an die Deutsche Presse-Agentur. Harms spricht kurz vor dem Finale außerhalb der Proben kaum ein Wort, er hat zeitweise mit einer angeschlagenen Stimme zu kämpfen gehabt. «Der Stimme geht es gut soweit. Trotzdem schone ich meine Stimme natürlich und benutze sie nur, wenn ich sie wirklich brauche. Lieber Vorsicht als Nachsicht.» Das Finale sei das Wichtigste. «Und darauf konzentriere ich mich jetzt.»

TV-Kommentator Peter Urban verabschiedet sich

Wenn es nach den Wettquoten geht, dürfte Schwedin Loreen den ersten Platz machen. Das wäre ihr zweiter ESC-Sieg nach Baku 2012. Dieser neue Anlauf sei «ehrlicherweise eigentlich nicht geplant» gewesen. «Aber dann gab es irgendwie lauter Zeichen», sagt die 39-Jährige der dpa. «Ich hatte plötzlich diesen Song. Und er ist so wunderschön. Es geschah dann so viel herum, dass das Universum mich irgendwie in diese Richtung zu lenken schien.» Sie entschied sich fürs Comeback, «weil mich die Menschen um mich herum so sehr bestärkt haben». Recht große Chancen räumen Experten auch dem finnischen ESC-Beitrag ein.

27 Prozent der TV-Zuschauer in Deutschland wollen nach einer Umfrage des Instituts YouGov den Wettbewerb am Samstag im Ersten verfolgen, Frauen (30 Prozent) übrigens eher als Männer (24 Prozent). Sie werden zum letzten Mal die markante Stimme des TV-Kommentators Peter Urban hören, der seit 1997 im ESC-Einsatz ist: «Das lässt mich natürlich nicht kalt. Wenn ich dann da sitze, wird mir das schon nahe gehen.»

Von Christof Bock, dpa

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