Die Enttäuschung steht dem Frontmann der Band Lord Of The Lost (l) ins Gesicht geschrieben. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Peter Kneffel/dpa)

Wieder Letzter: Versteht Deutschland den ESC einfach nicht?

Deutschland hat beim Eurovision Song Contest auch dieses Jahr wieder nur den letzten Platz geholt. Die Hamburger Dark-Rock-Band Lord Of The Lost («Blood & Glitter») reihte sich mit nur 18 Punkten in die Pleiteserie der letzten Jahre ein. Quotenmäßig war das ESC-Finale in Deutschland mit 7,96 Millionen TV-Zuschauerinnen und -Zuschauern ein Erfolg.

Schweden gewann den ESC zum siebten Mal: Loreen errang zum zweiten Mal für ihr Land den Sieg bei der größten Musikshow der Welt. 2012 war ihr das mit «Euphoria» gelungen, 2023 schaffte sie es mit dem recht ähnlich klingenden «Tattoo». Bislang war nur der Ire Johnny Logan zweimaliger ESC-Sieger. Finnland wurde in der Nacht zum Sonntag Zweiter, gefolgt von Israel, Italien, Norwegen und der Ukraine.

«Lord Of The Lost hätten mehr Punkte verdient», sagte der ESC-Kommentator Peter Urban nach seinem letzten Einsatz als ARD-Stimme der Show am Sonntag der dpa. «Natürlich ist das hart, auf dem letzten Platz zu landen. Wir haben auch echt nicht damit gerechnet», sagte Lord-Of-The-Lost-Sänger Chris Harms.

Enttäuschung der Organisatoren

Auch die deutschen Organisatoren ließen Enttäuschung erkennen. «Wir sind mit einem außergewöhnlichen Act gestartet, der überhaupt nicht das Ergebnis erzielt hat, das wir uns gewünscht haben. Das ist sehr, sehr enttäuschend und ernüchternd», teilte der bei der ARD verantwortliche NDR (Norddeutsche Rundfunk) am Sonntag mit.

2022 hieß es in einer Mitteilung nach dem letzten Platz für Malik Harris: «In Deutschland kam der Song im Radio und im Streaming sehr gut an. Wir sind enttäuscht, dass der Auftritt nicht besser bewertet wurde.» Und 2021 hieß es vom NDR beim vorletzten Platz: «Dass Musik polarisiert und Geschmackssache ist, wussten wir auch.» Trotz aller Enttäuschung habe Jendrik seinen ESC-Traum «mit uns gelebt».

Ähnliches gibt es fast jedes Mal. Vor acht Jahren etwa: «Null Punkte sind schon sehr enttäuschend. Der Auftritt von Ann Sophie war großartig.» Man werde jetzt genau überlegen, wie man sich auf den folgenden ESC vorbereite. Doch an den Ergebnissen änderte sich seitdem wenig – außer 2018, als Michael Schulte mit der gefühlvollen Ballade «You Let Me Walk Alone» Vierter wurde. Das Lied war eine hoch-emotionale Hommage von Schulte an seinen verstorbenen Vater.

Auch 2023 wird sich in Fan-Foren nun wieder gefragt, was Deutschland bloß falsch mache, ob es im Ausland schlichtweg unbeliebt sei oder ob es den ESC grundlegend nicht verstanden habe.

Eine These von Hardcore-Fans: Der ESC verlangt Gesprächsstoff, emotionalisierende Auftritte, eine außergewöhnliche Geschichte. Und die biete Deutschland nicht – Ausnahme Schulte oder damals Lena.

Käärijä aus Finnland begeisterte das internationale TV-Publikum

Die Rocker von Lord Of The Lost legten demnach zwar einen sprühenden Auftritt hin, scheinbar großes Theater. Doch nüchtern betrachtet war es eher ein Konzert mit Pyrotechnik und Aufrufen wie «Scream for me, Liverpool» und «Eurovision, make some noise».

Die beiden Abräumer Schweden und Finnland lieferten dagegen erinnerungswürdige Performances: Loreen machte als Hingucker auf mystische Wesen, das zwischen zwei großen Platten liegt.

Der verrückte Auftritt des Finnen Käärijä rund um Holzpaletten begeisterte das internationale TV-Publikum noch mehr, wie die Punkte zeigten. Am Anfang brach er aus einer Kiste aus, hopste dann halbnackt und jenseits aller Männlichkeitsklischees mit knallgrünem Bolero über die Bühne, begleitet von einer gruseligen Tanzgruppe.

Sein Lied «Cha Cha Cha» ist durch und durch überraschend. Der Song übers Betrinken beginnt als Industrial-Metal-Nummer, um plötzlich ein Disco-Ohrwurm und Mitschunkellied zu werden, das auch ein Ballermann-Hit werden könnte. Käärijä befreite sich auf der Bühne aus einem Verschlag. «Jetzt gehe ich tanzen, wie beim Cha Cha Cha – und ich habe keine Angst vor dieser Welt.»

Der Ukraine-Krieg war bei der Show aus Liverpool allgegenwärtig. Das große Finale begann mit einem Einspieler von Szenen unter anderem aus Kiew vom Maidan – wo der Sänger Oleh Psjuk vom Vorjahressieger Kalush Orchestra in einer U-Bahn-Station tanzte. Eine starke Symbolik – die Bahnhöfe werden von den Ukrainern als Luftschutzräume genutzt.

Ukraine-Flaggen und Tränen der Rührung

Und der Krieg machte an dem Abend keine Pause. Während in Liverpool die Zuschauer feierten, wurde die Heimatstadt der ukrainischen ESC-Teilnehmer Tvorchi von Russland angegriffen. Kurz vor dem Auftritt des Duos erschütterten Explosionen russischer Raketen die Stadt Ternopil im Westen des Landes.

Der emotionalste Moment war wohl, als der ganze Saal beim Klassiker «You’ll Never Walk Alone» einstimmte, den der niederländische ESC-Sieger von 2019, Duncan Laurence, als Pausenfüller während des Zuschauervotings sang. Dazu wurden viele Ukraine-Flaggen geschwenkt. Tränen der Rührung flossen. Das Lied wurde in den 60ern durch die Liverpooler Band Gerry and the Pacemakers berühmt und ist die Stadionhymne des FC Liverpool. An dem Abend war es aber eine bewegende Solidaritätsgeste an die Ukraine, die unter Russlands Angriffskrieg leidet und daher den ESC nicht hatte austragen können, weshalb Großbritannien eingesprungen war.

Von Christof Bock und Gregor Tholl, dpa

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